Fast jeder Junge und auch viele Mädchen haben diese „Weisheit“ in ihrer Erziehung gehört. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Soll heißen: sei tapfer, weine nicht, stehe auf und mache weiter. Kämpfe und sei stark. Aber müssen nicht auch Indianer mal weinen?
Karsten ist 35 Jahre alt. Er hat den Satz „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ sehr oft in seiner Kindheit und Jugend gehört. Als Erwachsener ist er ein sehr selbstständiger Mensch, der Wert auf seine Unabhängigkeit legt. Er hat einen starken Willen und ist sehr ehrgeizig. Aufgeben gibt es für ihn nicht. Sowohl sportlich als auch beruflich gibt er alles und kämpft für seine Ziele. Mit dieser Einstellung hat er schon viel erreicht. Doch sie hat auch negative Aspekte. Karsten kann keine Emotionen zeigen. Er zeigt sich immer stark, tapfer und unverletzlich. Dadurch wirkt er sehr unnahbar und überheblich. Besonders in der Beziehung zu seiner Frau führt dies zu Problemen. Seine Frau hat das Gefühl keine emotionale Verbundenheit zu ihm zu haben. Zudem verlangt Karsten von seiner Frau und seinen Kindern genauso viel Stärke und Kraft und kann nicht damit umgehen, wenn seine Familienmitglieder Gefühle zeigen. Wenn in der Familie jemand weint, kann er nicht reagieren und zieht sich zurück. Das macht er auch, wenn er selbst traurig ist. Er zieht sich zurück, zeigt seine Gefühle nicht und versucht sie schnell wieder loszuwerden. Vor anderen weinen, käme für ihn nie infrage. Selbst bei der Beerdigung seines Vaters hat er keine Träne vor den anderen Trauergästen vergossen. Karsten muss also alle Gefühle und Gedanken mit sich selbst ausmachen, er kann sie nicht teilen, sich nicht aufmunternd oder aufbauen lassen.
Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Solche und ähnliche Weisheiten machen ehrgeizige und starke Menschen aus uns. Das ist auch gut so, denn nur dann erreichen wir unsere Ziele und stecken nicht bei jeder Kleinigkeit den Kopf in den Sand. Aber: wer es übertreibt wird zum unnahbaren Einzelkämpfer und kann am Boden zerstört sein, wenn ein Kampf mal verloren geht. Jeder, wirklich jeder, darf auch einmal schwach sein. Weinen, traurig sein, wütend werden oder aufgeben sind entgegen manch althergebrachter Erziehungsweisheit auch mal erlaubt. Für unser zwischenmenschliches Zusammenleben ist es sogar sehr wichtig, dass man auch Emotionen in Beziehungen einbringt und sich einfach menschlich zeigt. Und wenn etwas sehr wehtut, dann darf man eben auch weinen. Und wenn man seine eigenen Grenzen erreicht hat, dann darf man auch mal aufgeben.
Oft legen wir uns selbst auch viel zu hohe Ziele auf oder wollen mehr erreichen als eigentlich notwendig ist. Veränderungen in den Lebensumständen machen es manchmal aber notwendig sich anzupassen, seine Ziele zu überdenken oder herunterzuschrauben. Nehmen wir an, Karsten hätte sich vorgenommen im nächsten Jahr den Iron Man in Hawaii zu laufen. Davon hat er auch allen Freunden und der Familie erzählt. Für eine erfolgreiche Teilnahme muss er viermal wöchentlich hart trainieren. Er hat einen exakten Trainingsplan erstellt und hält sich strikt daran.
Doch dann verletzt sich Karsten am Knie und solle für drei Monate nicht sportlich aktiv sein. Da Karsten aber nicht aufgeben kann, trainiert er viel zu früh wieder. Er kämpft sich trotz Schmerzen durch seinen Trainingsplan und tut sich damit längst nichts Gutes mehr. Durch das Training verschlechtert sich seine Verletzung und er muss schließlich operiert werden. Ob er je wieder Leistungssport machen kann, ist ungewiss. Wäre es nicht viel vernünftiger und besser gewesen, das Training für die drei Monate auszusetzen und die Teilnahme am Iron Man um ein Jahr zu verschieben oder ganz darauf zu verzichten?