Was gibt es heute zu feiern? „Das Leben an sich!“ Ähnlich wie dem Spruch: „Lebe jeden Tag als wäre es dein letzter!“
Ich hasse Beerdigungen. Wer jetzt denkt, dass ich sie vor allem wegen deren Traurigkeit hasse, liegt aber leider falsch. Selbstverständlich sind Beerdigungen sehr emotional und traurig und das ist natürlich auch nicht schön. Vor allem habe ich aber eine Abneigung gegen die anschließende Trauerfeier oder wie man sie so schön nennt: den Leichenschmaus. Welch grauenvoller Name! Während die Trauergäste gerade noch weinend und schluchzend am Grab standen, balgen sie sich jetzt um das beste Stück vom Kuchen und trinken so viel Kaffee wie möglich. Kostet ja schließlich nichts. Sie sitzen an den Tischen und tratschen und lachen. Und ich sitze mitten drin und denke über die Vergänglichkeit des Lebens nach, erinnere mich an die verstorbene Person und bin in meinem Inneren tief traurig. Währenddessen kommt Onkel Karl zu mir und will mir den besten Witz der Woche erzählen: Nein, danke! Auf einen Leichenschmaus könnte ich wirklich gut verzichten. Wenn ich mir vorstelle, man hätte gerade mich beerdigt und im Anschluss lachen alle über den besten Witz von Onkel Karl, als wäre nichts gewesen und mampfen dabei Käsekuchen: Nein, danke!
Bei Tante Ulla war es letzte Woche genauso. Wir hatten sie kaum unter die Erde gebracht, da ging in ihrem Wohnzimmer das Gerangel um das größte Stück Kuchen los und Onkel Karl begann mit seiner Witzeparade. Doch in diesem Fall kam es noch schlimmer. Nach dem Kaffeetrinken, begannen die beiden Töchter von Tante Ulla einen Streit. Es ging um die Weingläser, die seit Ewigkeiten in Tante Ullas Schrank standen. Ich kannte sie schon als Kind und konnte mich nicht daran erinnern, dass Tante Ulla oder ihr schon länger verstorbener Mann jemals aus den Gläsern getrunken hätten. Die Gläser waren so gut wie heilig. Das zeigte sich jetzt auch im Streitgespräch zwischen meinen Cousinen. Scheinbar waren die Gläser ein Hochzeitsgeschenk an Tante Ulla und ihren Mann gewesen. Seitdem standen sie in der Vitrine. Sie wären sehr wertvoll und in unbenutztem Originalzustand. Und jetzt ging es darum, wer die Gläser bei sich in die Vitrine stellen durfte. Beide Töchter wollten die Gläser. Ein Teilen der Gläser kam nicht infrage. Sie mussten schließlich zusammenbleiben und die beiden scheuten nicht davor zurück, ihren Konflikt um die Gläser vor der versammelten Trauergemeinde auszutragen. Irgendwann wurde sie dabei so laut, dass selbst der beste Witz von Onkel Karl keine ablenkende Wirkung mehr erzielte. Und es kam noch schlimmer: Die erstgeborene Tochter war schließlich der Meinung, sie hätte als solche ein Wahlrecht und nahm die Gläser einfach aus dem Schrank. Das brachte die Zweitgeborene zu einer Wutreaktion und es kam zu einer Schubserei. Die wertvollen, glitzernden Weingläser flogen im hohen Bogen davon und zerbrachen inmitten der erschreckten Verwandtschaft. Was für ein Jammer!
Auf dem Nachhauseweg musste ich noch lange über die Weingläser meiner Tante Ulla nachdenken. Über viele Jahre standen diese als wertvolles Gut in der Vitrine. Sie wurde nie benutzt. Aus Angst, dass sie kaputtgehen könnten. Doch macht das Sinn? Vor allem im Hinblick auf das jähe Ende der Gläser? Sie hatten nun keinen Nutzen, keinen Einsatz und es gibt keine liebevolle Erinnerung an sie. Wäre es nicht viel schöner gewesen, wenn Tante Ulla und ihr Mann am Hochzeitstag, an Weihnachten und an den Geburtstagen aus ihren tollen Gläsern getrunken hätten? Hätten sie nicht damit die Weingläser viel mehr genossen, also auf diese Weise? Auf was sollten die Weingläser eigentlich warten? Auf das Zerbrechen an der Trauerfeier? Was hätte Tante Ulla im Nachhinein entschieden? Als ich zu Hause angekommen war, kannte ich für mich die Antworten auf alle diese Fragen. Das Leben ist kurz. Vor allem vom Ende aus betrachtet. Die Jahre verfliegen und wir wissen vorher nie, wie viele davon uns gegönnt sind. Und wie viele davon wir glücklich verbringen können. Wir sollten unser Leben also viel intensiver leben. Auf was auch warten? Die Weingläser sollten wir nutzen. Genauso wie das gute Tafelsilber und die teuren Schuhe. Wir sollten jedes Stück Kuchen genießen, anstatt beim Verzehr ein schlechtes Gewissen zu empfinden. Und wir sollten an die Erfüllung unserer Träume denken. Jetzt. Und nicht irgendwann. Wer weiß schon, ob wir mit 65 noch genug Lust, Kraft und Gesundheit zur ersehnten Weltreise haben.
Uns so zog ich in der Garderobe meine Schuhe aus, holte unsere beste Flasche Wein aus dem Keller und die teuren Weingläser dazu. Ich setzte mich zu meinem Mann auf die Terrasse und schenkte uns ein Glas Rotwein ein. „Gibt es etwas zu feiern?„, fragte mich mein Mann mit Blick auf den teuren Wein. „Ja.“ antwortete ich. „Das Leben an sich.“
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Lara meint
4. Mai 2020 um 19:45 Uhr
Wie wahr! Leider leben wir zu selten danach…